Nicht weniger als das ganze „LEBEN“

Wenn zu Beginn eines Schuljahres die Proben der Theater-AG für die nächste Musicalproduktion beginnen, fragt man schon mal höflich interessiert: Na, worum soll‘s denn gehen?

In diesem Jahr lautete die Antwort: Es geht um das Leben. Und auf verständnisloses Nachfragen kam die Bestätigung: Ja, auch der Titel lautet einfach nur „LEBEN“.

Da denkt man: Auweia! Hätte weniger nicht auch gereicht? Ob sie sich damit nicht doch etwas übernommen haben? Ein Thema, das man vielleicht einem Philosophiekurs oder der Ratgebersparte im Buchladen zuordnen würde, aber doch nicht einem Schülertheater und dann auch noch in Musicalform!

Aber erstens hat die Musicaltruppe der Liebfrauenschule ihre Professionalität in den Produktionen der vergangenen Jahre längst bewiesen und zweitens gibt es in der Musicalsparte durchaus Titel, die große und sperrige Themen mit Tanz, Gesang und Schauspiel eindringlich auf die Bühne bringen. Und tatsächlich werden, wenn man sich „LEBEN“ anschaut, (sicher beabsichtigte) Parallelen insbesondere zu „Cabaret“ (Zago erinnert an den dämonischen Conférencier) und „All that Jazz“ (in dem ein Regisseur sein eigenes Sterben auf die Bühne bringt) von Bob Fosse deutlich.

Der Plot ist schnell umrissen. Am Anfang steht eine Standardsituation. Wenn ein Autor verschiedenartigste Charaktere miteinander in eine Handlung zwingen will, bietet sich (spätestens seit Agatha Christie) die plötzliche gemeinsame Erbschaft als Anlass an. Diese Erbschaft ist natürlich an merkwürdige Bedingungen – in diesem Fall eine gemeinsame Reise in einem altmodischen Salonwagen – gebunden, womit sich alle Möglichkeiten des klassischen Road-Movies auftun, die Personen durch eine Reihe von emotionalen, dramatischen oder skurrilen Episoden zu führen. Aus Habgier und Neugier lassen sich natürlich alle Erben auf die Bedingung ein, entwickeln Beziehungen zueinander und gehen verändert aus der Situation hervor. So ein Plot bietet durchaus Raum für sehr vielfältige Einblicke in die verschiedensten Formen von Leben!

Das Stück beginnt mutig und provozierend – mit dem Tod. Die junge Ärztin Eva findet ihren Patienten tot im Bett. Auch die ehrgeizige Schauspielerin Tony, die schüchterne Kellnerin Lisa und die taffe Managerin Isabel, die alle zu diesem Zeitpunkt ins Krankenhaus bestellt worden sind, fühlen sich zu spät gekommen. Bedauern darüber, einen Menschen unwiderruflich verloren zu haben, und Reue für all die verpassten Gelegenheiten sind dann auch das Thema des anrührenden ersten Songs „In dem Moment“.

Mit einem krassen Stimmungswechsel wird ihm dann aber eine klassische Revuenummer samt beineschwingenden Girls entgegengestellt: „Das Leben geht weiter / Di-dumm, Didummdididum“, ein makaber-pietätloser Kontrapunkt, den die Sänger und Tänzer mit aller verfügbaren Spielfreude auskosten.

Mit diesem Song stellt sich Zago vor, die schillernde Figur, die durch die Handlung führt, etwas Eulenspiegel und etwas Clown, auf jeden Fall aber die Testamentsvollstreckerin des Toten, Reiseleiterin und Waggonschaffnerin für die vier jungen Frauen. Sie informiert diese darüber, dass der steinreiche Verstorbene sie zu gleichen Teilen als Erbinnen einsetzen will, falls sie die gemeinsame Reise antreten. Sie reduziert den Menschen abgebrüht und kritisch auf seine Instinkte und unterstellt Egoismus und Überlebenswillen als Antriebsfeder für jedes Handeln. Aber gerade aus dieser beschränkten Sicht auf den Menschen resultiert ihr klarer Blick für Sentimentalität und Selbstbetrug, die sie witzig und ironisch entlarvt. Die großen Gefühle der vier jungen Frauen, ihre Hoffnungen und Träume, sind ihr völlig unverständlich. Dennoch hält sie für jede von ihnen passende Stationen bereit, in denen sie ihnen den Spiegel vorhält, sie mit ihren Niederlagen, aber auch Lebenschancen konfrontiert, bis sie sich selbst sehen und auch die anderen in den verschiedensten Facetten von deren Leben.

Abgesehen davon, dass alle vier ihre Herkunftsfamilie nicht kennen und in Waisenhaus oder Pflegefamilie aufgewachsen sind, könnten sie verschiedener nicht sein. Die Bankerin Isabel charakterisiert sich beim Zwischenstopp „New York – Wall Street – mit Umsteigemöglichkeit nach Fort Knox“ als knallharte und erfolgreiche Zockerin, die für ihre Millionenprovisionen jedes Risiko eingeht. Sie schmettert „Reich sein, Scheich sein“, eine Art Hymne auf den Kapitalismus, mit der „LEBEN“ die Gesellschaftssatire streift.

Für Tony dagegen hält der Zug auf der Onkologie. Sie begegnet ihrem Selbst, wie es in zehn Jahren sein wird – sterbend – umgeben von einer nur am Honorar interessierten Ärzteschaft, gegen die sie sich genauso wenig wehren kann wie der Zauberlehrling gegen seine Besen. Aber sie erfährt auch, dass sie bis dahin all die wunderbaren Rollen der Weltliteratur, von denen sie träumt, auf großen Bühnen gespielt haben wird – eine willkommene Gelegenheit, das Thema „Leben“ mit knappen Zitaten aus gängigen Schullektüren zu kommentieren: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.“

Die Station der Kellnerin Lisa ist das Kinderzimmer. Auch sie begegnet ihrem eigenen Selbst – wie es Jahre zuvor war: in der Figur eines phantasiebegabten kleinen Mädchens. Klar und beklemmend weist das Bühnenbild in einer Rückprojektion auf Gewalt und Missbrauch durch den Pflegevater hin, während das „Machtlos“-Duett mit eindringlichen, leisen Tönen die psychischen Auswirkungen beschreibt: „Wie ein Vogel, dem der Flügel zerbricht …“ Mit zerbrochenen Flügeln geht Lisa seitdem durch ihr Leben und wird von Menschen wie Tony und Isabel noch immer sofort als „Opfer“ erkannt.

Banal erscheint dagegen die Konfrontation der jungen Ärztin Eva mit der Erfahrung verschmähter Liebe im Teenageralter. Ihre Station ist das Kino, in dem sie noch einmal ihrer Jugendliebe, einem eitlen, egozentrischen, Popcorn fressenden Macho begegnet und abermals abgewiesen wird. Hier assoziiert man die Soap, in der das Alltägliche dramatisch aufgebläht wird. Dennoch können auch alltägliche Verletzungen ein Leben prägen. Eva fühlt sich als chancenloses Mauerblümchen, versteckt sich hinter Brille und weißem Kittel und hat ihre Sehnsucht nach Liebe, Partnerschaft und vielen Kindern zur Nächstenliebe sublimiert, indem sie Ärztin wurde, denn „wenn ich mein Herz verschließ, dann tut‘s nicht mehr so weh.“

Für alle vier hält Zago weitere Stationen auf der Reise bereit, durch die sie auf unterschiedliche Art zu Selbsterkenntnis, Mut und Lebenswillen geführt werden. Die schrägste Nummer ist dabei sicherlich die Station „Bank am Bahnhof“. Zu einer typischen, altmodischen Stripteasemusik humpeln und rollen ein paar alte Leute zu dieser Bank, bei der sie sich regelmäßig zum Austausch über ihre vergangenen erotischen und kulinarischen (Möhreneintopf!) Erlebnisse treffen. Ihr Lebensinhalt ist die Erinnerung. Und das ohne jedes Bedauern! Ihre Gebrechen geben ihnen Anlass zu derben Späßen. Sie scheinen wild entschlossen, jeden Tag auszukosten, und geben vor allem Eva, aber auch den anderen Protagonisten und nicht zuletzt dem Publikum in einer schwungvollen Tanznummer den Rat, alles doch etwas leichter zu nehmen:

„Tanz dein Leben!“

Als Abschluss der Reise erweist sich am Ende das Waisenhaus, in dem den vier Erbinnen ihre gemeinsame Herkunft offenbart wird. Zago übergibt jeder ihren Anteil am Erbe zusammen mit einem Brief des Erblassers, in dem dieser enthüllt, dass er ihr Vater war. Er bittet um Verzeihung, sich nie um sie gekümmert zu haben, bis er von seiner tödlichen Krankheit erfuhr. Er wagte nicht, sich als Vater zu erkennen zu geben, hat aber das Schicksal seiner vier Töchter begleitet, indem er Isabels Chef und Tonys treuer Fan wurde, regelmäßig im Restaurant bei Lisa aß und zu Isabel ins Krankenhaus ging. Um seine Töchter zusammenzubringen und ihnen eine Chance auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu geben, hat er in seinen letzten Lebenstagen für sie die Reise arrangiert – und damit seiner eigenen letzten Lebenszeit einen Sinn gegeben.

Was bleibt am Ende?

Wäre „LEBEN“ ein Märchen, dann müsste Isabels Geldgier mit Verlust bestraft und die schlichte Sehnsucht Evas mit einem passenden Adam und unzähligen Nachkommen belohnt werden. Lisas psychische Wunden würden geheilt und das Todesurteil für Tony aufgehoben. Aber das Leben ist kein Märchen: Die vorgegebenen Bedingungen ändern sich nicht. Dennoch haben die Vier auf ihrer Reise viel gewonnen. Sie sind versöhnt mit ihren eigenen Schicksalen. Jede von ihnen hat drei verständnisvolle Schwestern gewonnen. Und Sie haben jetzt die gemeinsame Erinnerung an einen Vater, der nicht nur biologischer Erzeuger war, sondern sich am Ende als wirklicher Vater erwies, indem er seinen Töchtern – nicht nur finanziell – echte Lebenschancen eröffnete.

Text: Monika Hellebrandt
Fotos: Thomas Cöhnen, Jannik Packmann (FH/12G2), Lars Kamphausens (FOS/12G2)


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