Fabula – was wäre wenn …?

Wer einen Blick auf das Werbeplakat für die neueste Produktion der Musical-AG unserer Schule wirft, wird sich vielleicht an „Die Tribute von Panem“ erinnert fühlen: Farbgebung in Schwarz und Gold, Hochglanz, ein flammendes Rad auf tiefschwarzem Grund, darauf ein geheimnisvolles Emblem, die schnörkellose Schrifttype mit den wichtigsten Informationen…

Dass diese Assoziation nicht zufällig ist, begreift jeder, der „Fabula“ dann auf der Bühne gesehen hat. Gezeigt wird auch hier eine zukünftige Welt. Die Menschheit hat es gerade noch geschafft, die totale Vernichtung durch Kriege und Katastrophen zu verhindern, aber nur um den Preis der gnadenlosen Diktatur einer allgegenwärtigen „Allianz“, die Frieden und Sicherheit garantiert, indem das Volk mit Gewalt, Versorgung und Ablenkung ruhiggestellt wird. Diese „Brot-und-Spiele-Strategie“ leitet sich von dem lateinischen Ausspruch „panem et circenses“ her. Mit Brot und blutigen Spielen im Amphitheater sollten die Römer in der Antike davon abgehalten werden, gegen den Staat aufzubegehren. Im fiktiven Staat Panem haben die Hungerspiele diese Funktion.

Und in „Fabula“? Ja, auch hier gibt es „Spiele“, die aus der Sicht der Herrschenden die Funktion haben, das Volk mit den strengen Alltagsregeln auszusöhnen. Aber damit endet die Parallele. „Fabula“ spinnt die Geschichte in eine völlig andere Richtung weiter und öffnet eine neue Thematik: Der Einfluss, den Medien und mediale Welten auf Menschen haben, wird zur entscheidenden Frage, nicht nur für die Allianz, die vor allem Individualität, Kreativität und Phantasie als unruhestiftende Kräfte fürchtet, sondern auch für den Zuschauer, der sich fragt, woher die uniformierten und fremdbestimmten Menschen die Vision und die Kraft zu einer Revolte nehmen sollen und ob eine solche Revolte überhaupt wünschenswert ist.

Das zur Phantasielosigkeit verdammte Volk wird von einer Tanz- und Gesangsgruppe in strengen Kostümen verkörpert: völlig gleiche graue Arbeitsanzüge, adrette blonde Bubikopfperücken und natürlich das unvermeidliche Smartphone. In seiner beeindruckenden ersten Nummer „Für die Allianz“ offenbart sich in der militärischen Formation und dem dumpfen Marschrhythmus der Musik das Credo ihres Lebenssinns: Arbeit und Gehorsam. Vermissen diese Menschen nichts? Menschen haben nun einmal Phantasie und Kreativität und damit auch ein Grundbedürfnis, diese Kräfte auszuleben. Da auch die Allianz das weiß, erlaubt sie dem Volk einmal täglich sein „Opium“: die zehnminütige TV-Soap mit dem Titel „Die Flammen von Fabula“, die jeden Abend über die Bildschirme läuft. Gebannt schaut die Menschheit diese Serie und feiert die Figuren wie Helden. Die Serie bietet Gesprächsstoff und die Möglichkeit zum stellvertretenden Erleben von sonst unmöglichen Gefühlen.

Die Welt der TV-Serie „Fabula“ erscheint rein optisch der tristen Menschenwelt völlig entgegengesetzt. Orientalisch bunt kommt der schusselige König Keysos daher, begleitet von seinem tuntigen Diener im babyrosafarbenen Satinanzug, der knallroten Operettenleibgarde und einer Gruppe witziger Fabeltiere. Stattliche Helden und schöne Prinzessinnen schwelgen in Tapferkeit, Liebe, Eifersucht und Verrat. Das anrührende Liebesduett der anmutigen und schönen Venia und dem aufmüpfigen Vigor wird von einem romantischen Hintergrundballett begleitet. Das zuschauende graue Volk schmilzt dahin (und der Zuschauer hat das Gefühl, dass sich das Musical als Theatergattung hier selbst ein wenig auf die Schippe nimmt.).

Erfinderin der Serie ist Pandora, die als einziger Mensch gilt, der genügend Phantasie hat, um den Gestalten von „Fabula“ Leben einzuhauchen und der Handlung unerwartete Wendungen zu geben. In einer Kulisse, die wie eine Mischung aus Thronsaal, Aufnahmestudio und Labor wirkt, sitzt sie – an Kabel angeschlossen – da, während die Fabula-Geschichte direkt aus ihrem Gehirn in Computer eingespeist wird. Flankiert wird sie von zwei „Gehilfen“, die der sensiblen und von Selbstzweifeln geplagten Geschichtenproduzentin den Rücken stärken, indem sie ihr Selbstbewusstsein zu geben versuchen: „Du bist die Schöpferin!“ Als deren Gegenspieler erscheinen vier völlig gleich aussehende Funktionäre der Allianz in grauen Anzügen, die Pandoras Phantasie überwachen und in den vom Regime gewünschten Bahnen halten sollen. Pandoras Auftrag lautet, in allen phantastischen Verwicklungen ihrer Geschichten immer dieselbe Moral zu transportieren: Gehorche der Macht und widersetze dich nicht. In ihrem mitreißenden und komischen ersten Song „Bitte, bitte“ rockt die schräge Truppe um den König Keysos, wie das „Brot-und-Spiele-Konzept“ der Herrschaftssicherung voll aufgeht: Wenn jemand – bitte, bitte – Bier und Frieden und Speck und Spaß bietet, gehorcht man gerne und dankbar. Die Welt von „Fabula“ unterscheidet sich also nur optisch von der Menschenwelt und zeigt im Grunde dieselben Strukturen: eine unbarmherzige Diktatur, der nicht zu gehorchen den Tod bedeutet. „Fabula“ ist tatsächlich der „Spiegel der Wirklichkeit“, wie es im Titelsong der Serie heißt.

Aber Pandora heißt nicht umsonst Pandora. Ebenso wie ihre Namensschwester aus dem antiken Mythos, die es nicht lassen kann, die nach ihr benannte Büchse mit den Übeln zu öffnen, lässt auch sie wider besseres Wissen und erklärte Absicht das frei, was die Allianz zurecht am meisten fürchtet, nämlich den Geist des Widerstands. Ihr Held Novas, der Sympathieträger des grauen Volkes, lehnt sich gegen die Willkür von Keysos auf. Nach der Logik der Serie muss er dafür sterben und auch Pandora, die die Unabhängigkeit ihrer Erfindungen verteidigt, gerät in Gefahr. Die grauen Funktionäre entwickeln also eine Fortsetzung der Serie, mit der sie eine mindestens ebenso große Erfindungsgabe beweisen, wie Pandora sie hat (haben sich die Menschen nur eingeredet, dass ihre Kreativität verkümmert ist?): Novas soll alle Sympathien verlieren und möglichst schnell den vom Publikum als verdient betrachteten Tod sterben.

Aber Pandora bringt es nicht übers Herz, ihr „geistiges Kind“ einfach zu löschen – der Widerstandsgeist ihres Helden stammt ja schließlich von ihr selbst! Ihre Figur für irgendeine Moral zu opfern, kommt ihr vor wie Mord. Sie, die Schöpferin, empfindet für Novas Gefühle wie für einen lebendigen Menschen. Und folgerichtig wird er lebendig, er steht vor ihr als ein Mensch aus Fleisch und Blut und sie muss erkennen, dass sie keine Macht mehr über ihn hat. Mit ihm dringen auch die anderen Figuren aus „Fabula“ in die reale Welt ein, und zwar aus eigenem Antrieb und mit beachtlicher Wucht. Sie wollen über die Grenze gehen und reißen die Grenze tatsächlich ein. (Aktuelle Bezüge sind an dieser Stelle klar beabsichtigt.) Gespalten sind die Reaktionen: Muss man die Neuankömmlinge fürchten oder bringen sie Hilfe? (Auch diese Frage kommt einem sehr bekannt vor.)

Unsicherheit und Verwirrung steigern sich. Klar ist nur eins: Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist zwar gerade gefallen, aber die zwischen den Anhängern von Ordnung und Diktatur einerseits und Freiheit und Phantasie andererseits besteht weiter, nur die Fronten formieren sich neu bis hin zu der absurden Situation, dass das graue Volk mitsamt seinen grauen Funktionären aus Angst vor dem Chaos nach dem Machtverlust der Allianz Keysos, den grausamen Diktator „Fabulas“, anfleht, der neue Machthaber (oder Führer?) zu werden, dem man dann in alter Manier bedingungslos gehorchen will. Abgedrängt im Hintergrund der Bühne vereinigen sich die Freiheitsliebenden, Pandora, Novas, Vigor, Venia und Crisma. Vor allem Novas steht fassungslos da; er schüttelt den Kopf und versteht die Welt nicht, in der er da gelandet ist und die sich in nichts von der vorherigen unterscheidet. Schließlich schleudert Crisma Keysos ihr Protestlied „Niemand, niemand sagt mir, was ich glauben soll. Niemand, nein niemand sagt mir, wer ich bin!“ entgegen und die Hymne der Oppositionellen „Habt keine Angst vor Phantasie“, gerichtet an das graue Volk und das Publikum, fordert dazu auf, sich niemals aus Angst mit einem kümmerlichen und fremdbestimmten Leben abzufinden, sondern offen und mutig auf Neues zuzugehen. Die Parteien stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Wenn eine Geschichte sich in ihrer eigenen Komplexität erst einmal so sehr verheddert hat, hilft in der Regel nur noch ein „deus ex machina“. Und der erscheint auch, und zwar in der Gestalt der beiden ach so loyalen Gehilfen Pandoras. Die „entpuppen“ sich auf der Bühne, indem sie die silbergrauen Arbeitsanzüge ablegen und sich im tadellosen Businesslook präsentieren, als Drahtzieher des bisherigen Geschehens. Auch sie vertreten das Konzept der Allianz und es wird klar, dass sie nicht auf Seiten Pandoras, sondern der vier grauen Funktionäre stehen, mit denen sie gemeinsam nach dem Prinzip „good cop, bad cop“ Pandora unter Kontrolle gehalten haben. Sie halten die Handlung an. Das Licht geht aus, alle Figuren sacken in sich zusammen, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Sie bringen zwar keine Lösung, aber ein vorläufiges Ende des Konflikts, indem sie beschließen, der Menschheit durch das Rebooten der Serie eine letzte Chance zu geben. Und dann zeigt sich, dass auch die scheinbar reale Welt virtuell ist: Pandora selbst ist „auf Anfang zurückgesetzt“. Die Handlung beginnt aufs Neue…

Und der Zuschauer sitzt da und fragt sich, wie real die Realität ist und ob nicht er selbst eine ausgedachte Figur eines von Google produzierten Computerspiels sein könnte. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen ein weiteres Mal. Eines aber ist gewiss: Nicht nur den Diktatoren und dem unterdrückten Volk, sei es nun real oder fiktiv, sondern auch den Medienkritikern hat „Fabula“ eine Botschaft entgegenzusetzen. Wer mit erhobenem Zeigefinger davor warnt, dass das Abtauchen in die fiktive, virtuelle Welt der Serien und Computerspiele zu einem erschreckenden Realitätsverlust, zu Gewalt und Persönlichkeitsveränderungen sowie schlechten Schulleistungen führt, muss sich sagen lassen. „Habt keine Angst vor Phantasie“.

Text: Monika Hellebrandt
Fotos: Thomas Cöhnen, Lena Hendrix


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