Tod – Das Leben geht weiter!
Tod – Das Leben geht weiter
Aber WIE?
Genauer gefragt: „Wo ist die Tür zu meinem Himmel?“
Nur noch der „Tod“ scheint tatsächlich als Thema die Musicalproduktionen der letzten beiden Jahre „Leben“ und „Liebe“ überbieten und die Trilogie damit abschließen zu können. Und als wenn die Musical AG die abschreckende Wirkung dieses Titels doch etwas hätte abmildern wollen, gibt es diesmal einen Untertitel: „Das Leben geht weiter.“
Was wie eine abgedroschene Floskel klingt, wird dabei einfach einmal wörtlich genommen und auf den Verstorbenen statt auf die Angehörigen bezogen: Wie könnte es für einen Menschen weitergehen, wenn er gestorben ist? Da es sich aber um ein Musical handelt, wird diese Frage natürlich nicht nur ernst, sondern auch witzig, skurril und schräg angegangen.
Tony (Maja Dheur), eine der vier Heldinnen aus „Leben“ musste sich in „Liebe“ von Zago (ihrem Schutzengel?) ins Jenseits abführen lassen, nachdem sie erkannt hatte, dass ihr Traum von der Karriere als Schauspielerin ein Irrweg war und sie ihre Lebensaufgabe auf ganz andere Weise bereits erfüllt hatte. „Ihre Seele darf nun fliegen; nur die Hülle bleibt zurück.“ – diesen poetisch-anrührenden Song singen ihre Freunde auf ihrer Beerdigung, mit der die Handlung einsetzt. Auf ihrer eigenen Trauerfeier erscheint auch Tony selbst – unerkannt und ungesehen von den Sterblichen – als eine ziemlich ratlose, hilflose und vor allem orientierungslose Seele, die erwartet, dass jetzt irgendjemand über ihren künftigen Verbleib entscheiden wird. Sie findet sich in einer merkwürdigen Zwischenwelt, weder Diesseits noch Jenseits, und begegnet hier als erstes einem Totengräber, der sie abgebrüht und cool über ihre Situation belehrt und dabei planlos Urnen sortiert. Tony muss erkennen, dass ihre Vorstellung vom Jenseits ziemlich naiv ist. Sie weiß, dass sie in den Himmel will, und spult brav nie hinterfragtes „Wissen“ ab, dass der Himmel der Ort ist, an den die guten Menschen nach ihrem Tod kommen, worüber der erfahrene Totengräber nur müde lachen kann. Nein, auch in Bezug auf das Leben nach dem Tod ist die eigene Entscheidung gefordert. Das Leben im Jenseits ist nicht Bestimmung, sondern freie Wahl. „Wo ist die Tür zu meinem Himmel?“, fragt Tony sich, als sie das verstanden hat. Beharrlich und selbstbewusst, wie sie sich auch in ihrem irdischen Leben gezeigt hat, fordert sie schließlich Aufklärung über die möglichen Alternativen.
Spontanen Applaus gab es, als sich der Vorhang für den großen, hinteren Teil der Bühne öffnete und den Blick auf einen lebhaft bevölkerten orientalischen Bazar freigab, der von gefühlt tausenden unterschiedlich großen bunten Lampions erleuchtet wirkte. „Da du tot bist, fühlst du nichts mehr; also fühl dich einfach frei!“ Das ist der Rat, den der Chor Tony hier erteilt, eine Art Werbebotschaft im Konsumtempel. Freiheit ist also die Wahlfreiheit auf dem Markt der Religionen. Folglich preisen stellvertretend für die Weltreligionen eine buddhistische und eine christliche Nonne sowie eine muslimische Kopftuchträgerin ihre jeweiligen Jenseitsvorstellungen an. Aber auch die ausgestorbenen polytheistischen Religionen der Ägypter, Griechen und Germanen melden sich zu Wort. Jeder dieser Anschauungen ist ein Rollwagen mit Devotionalien zugeordnet, quasi eine Verkaufsvitrine mit religiösen Accessoires. Kein Wunder, dass die verschiedenen „Verkäufer“ im Konkurrenzkampf um die Kundin Tony (bzw. ihre Seele) heftig miteinander in Streit geraten und insgesamt auf sie wenig überzeugend oder attraktiv wirken.
Schließlich stellt der Totengräber der vollends verwirrten Tony die Gretchenfrage: „Wie hältst du es mit der Religion?“ Und prompt erscheint auch noch der mephistophelische Levi Asmodi mit seinem Gegenentwurf: Wie es sich für einen richtigen Teufel gehört, rebelliert er gegen Gott und jedwede Gebote. Als geübter Verführer wertet er alle Religionen als Gehorsam und Unterwerfung fordernde, fremdbestimmende Systeme ab und bietet unbegrenzte Freiheit und Spaß, Spaß und nochmal Spaß!
Wer die Figur der Tony kennt, sieht sofort, dass diese Möglichkeit für sie viel zu oberflächlich und billig und damit keine Alternative ist. Wie eine Stimme aus ihrem eigenen Inneren erscheint nun aber im Hintergrund die „Hüterin der Erinnerung“, eine witzig anachronistische Figur mit überdimensionaler Puderperücke, die in Reimen spricht und für die Nachwelt die Bilder der Verstorbenen verewigt – sei es als Ölgemälde oder What’sApp-Profilbild. Tony wird sich ihres eigentlichen Wunsches bewusst (es ist der Wunsch, der sie von Anfang an geleitet hat – für andere Menschen „eine Rolle zu spielen“, d.h. wichtig zu sein): „Ich will, dass sich die Menschen an mich erinnern.“
Da sie nun einen Wunsch geäußert hat, kann der Totengräber ihr mit einer Möglichkeit dienen. Er ruft den quirligen, flinken Schutzengel C7 herbei und lässt von ihm die „Arbeitsbedingungen“ erklären. Mit einigen Seitenhieben auf moderne Kindererziehung (Schutzengel für Kinder sind dank der modernen Erziehungsinstitutionen einschließlich der Versorgung der Sprösslinge mit Tablets, dank derer die Unfallgefahr drastisch minimiert werden konnte, nahezu arbeitslos geworden) erklärt C7, dass Menschen zunehmend Hilfe und Unterstützung bei wichtigen Entscheidungen benötigen. Einige weiße Federn auf dem Kostüm lassen ihn wie ein abgehetztes Vogelküken aussehen; dass er aber außerdem eine weiße Latzhose trägt und Klempnerwerkzeug bei sich hat, veranschaulicht auf witzige Weise, wie ein moderner Schutzengel bis an die Grenzen gefordert ist, an den Stellschrauben des Lebens zu drehen. Tony, der diese Aufgabe verlockend erscheint, muss aber auch erfahren, dass die Menschen sich in der Regel nicht an ihre Schutzengel erinnern, sondern sie nach Vollendung ihrer Aufgabe sofort vergessen und höchstens noch manchmal denken: „Na, da hab ich Glück gehabt.“ Trotzdem entscheidet sie sich für den Versuch, als Schutzengel, der anderen bei wichtigen Entscheidungen zur Seite steht, auf die Erde zurückzukehren. Das ist nur konsequent, denn für jemanden, der das Leben liebt, ist das angebotene Jenseits der falsche Ort.
In Inhalt und Stimmung ganz anders als der z.T. burleske erste Akt zeigt sich der zweite, in dem es um Tonys Bewährungsprobe als Schutzengel geht. Dementsprechend ändert sich auch die Personenkonstellation: Die Religionen haben Pause bis zum Finale, statt ihrer tritt eine neue Hauptperson auf, die ungewollt schwangere Elia, die ihren Lebenstraum, Tänzerin zu werden, bedroht sieht und dringend Hilfe braucht. Sehr intensiv, zornig und verletzlich zugleich gestaltet Zilan Cengil diese Figur, an der Tony fast scheitert. Überzeugt davon, das Richtige zu wissen und Elias Entscheidung für das Kind fördern zu müssen, konfrontiert Tony Elia zuerst mit ihrer Zukunft als Mutter und dann mit ihrer Vergangenheit als Kind. Beides erweist sich als kontraproduktiv: Die in der Spielplatzszene vorgestellten Eltern vertreten Typen, zu denen man sicher nicht gehören möchte. (Ein Vater sorgt sich um den Platz in der Elite-Kita für seinen hochbegabten Sohn, eine Mutter aus der alternativen Szene füllt ihre Kinder mit Soja-Milch ab …) Und in der eigenen Kindheit hat Elia nur üble Erfahrungen bis hin zum Missbrauch gemacht. Will und kann sie also Mutter werden? Sie entscheidet sich durch Tonys Eingreifen zunächst für den Schwangerschaftsabbruch. Für Elia eröffnet sich erst ein Weg, als Tony ihre Einstellung ändert. In ihrer Ausbildung zum Schutzengel lernt sie, was jeder Therapeut lernen muss: Es hilft nicht, dem Klienten Lösungen aufzuzeigen. Es muss darum gehen, mit Empathie, Akzeptanz und Kongruenz seine Selbstheilungskräfte zu stärken. Tony bietet Elia bedingungslose Unterstützung an und begleitet sie in die Abtreibungsklinik, wo sie buchstäblich „hinter ihr steht“. Bedrohlich wirkt in der Szene die Fließbandabfertigung der Frauen. Das Näherrücken der Entscheidung wird in sehr eindrücklicher Weise durch das Aufrücken in der Stuhlreihe der Wartenden und die wiederkehrenden Klingelzeichen symbolisiert. Elia bleibt nur die Flucht. Mit der Besinnung auf ihre Stärke, den Tanz, entwickelt sie erste Gefühle für das Kind. Und mit dem gewonnenen Casting für eine wichtige Rolle im Tanztheater wächst ihr Kampfgeist.
Dass am Ende alles gut ausgeht, wundert natürlich niemanden. Wie genau dieses Ende sich gestaltet, bleibt offen. Jedenfalls zeigt die Schlussszene Elia als liebevolle Mutter mit ihrem Baby, während Tony als bereits vergessener Schutzengel in der Zeitung einen Artikel über sie liest – den Sprung in die Berühmtheit hat sie also offensichtlich auch geschafft. Tony hat sich als Schutzengel für wichtige Entscheidungen bewährt, indem sie in Elia das Selbstvertrauen stärkte, sich eben nicht zwischen Kind und Karriere entscheiden, sondern beides haben zu wollen.
Und auch Tonys Wunsch, dass man sich an sie erinnert, erfüllt sich. Elia hat ihre kleine Tochter, ohne sich über den Grund dieser Wahl bewusst zu sein, ebenfalls Tony genannt – das Leben geht weiter!
Mit der großen Hymne auf das Leben aus dem ersten Teil der Trilogie: „Stell dir vor, du könntest fliegen“, findet auch der dritte sein Finale. Aber während im ersten Teil Zago dieses Lied als Solo vortrug, endet der dritte mit einem großen Chor aus Göttern, Menschen, Engeln und Teufeln. Wenn das nicht Leben ist …
Text: Monika Hellebrandt
Fotos: Ewald Hülk
Grandios! Ein großes Lob an alle Beteiligten ! Die hervorragenden Fotos geben einen treffenden Eindruck von der Kreativität aller Mitwirkenden. Das ist ein Musical mit Tiefgang. Ich freue mich auf die Produktion im nächsten Jahr !
Jedes Jahr denke ich, es sei keine Steigerung mehr möglich. Aber das stimmt nicht! Es war eine tolle Aufführung, sehr viele Gedanken zu einem Tabuthema, die mich noch lange beschäftigen werden. Eine ganz tolle Aufführung!