Rezension zum Schulmusical „Liebe“
Es ist was es ist
sagt die
LIEBE:
Ein abgewrackter Bahnhof
Ein Jahr nach der Produktion von „Leben“ hat sich die Musical-AG unserer Schule wieder an ein großes Thema gewagt: „LIEBE“ Das Stück knüpft dabei inhaltlich an „Leben“ an, hat aber ein völlig anderes Thema. Während es in „Leben“ um die Aussöhnung von vier Schwestern mit der Vergangenheit und dem eigenen Schicksal ging und am Ende jede vom Vater mit einem großen Erbe ausgestattet in die Zukunft entlassen wurde, fragt „Liebe“ nach dieser Zukunft. Es geht um die Frage, wie die beiden scheinbar stärksten der Schwestern die Lebenschancen nutzen, die ihnen der Vater eröffnet hat. Willensstark und zielstrebig wirken beide, Isabell, die Businessfrau, die auf Geld und Karriere setzt, und Tony, die Schauspielerin, die in den zehn Jahren, die sie noch zu leben hat, alle großen Frauenrollen der Weltliteratur gespielt haben will. Beide können nun die Weichen für ihr Leben stellen – da ist es nur natürlich, dass der Schauplatz des Stücks ein Bahnhof ist, von dem aus beide in unterschiedliche Richtungen aufbrechen möchten. Dass es dazu aber nicht kommt, deutet sich schon an, als Tonys Zug Verspätung hat und die jungen Frauen eine weitere Stunde miteinander auf dem Bahnsteig verbringen müssen und in die Lebenswelt der dort Arbeitenden und einiger Fahrgäste hineingezogen werden.
Was das mit dem Thema „Liebe“ zu tun hat, erschließt sich erst allmählich. Jedenfalls wird „Liebe“ in einem sehr speziellen Sinn verstanden, nämlich etwa so, wie die Autorin Diana Denk formuliert: „Nur wer den Kompass der Liebe immer bei sich trägt, vermag sich auf der Reise durchs Leben nicht zu verirren.“ In diesem Sinne beneidet Isabell Tony um deren Liebe zum Schauspielen: „Ich wünschte, ich könnte das auch von mir sagen … Dass ich weiß, was ich will und was ich so sehr liebe wie du das Theater.“ Liebe ist die Motivation, einer Sache (und das kann auch eine Person sein, wie es die gefühlvolle Blumenfrau Matilda und ihr schüchterner Stammkunde Leonhard am Ende für sich entdecken) seine ganze Zeit und Kraft, sein ganzes Leben und nicht zuletzt auch das ganze Geld zu widmen. Beiden, Isabell und Tony, kommt die Liebe gewaltig in die Quere, und zwar die Liebe zu diesem abgewrackten Bahnhof.
Er ist aber auch voll von liebenswürdigen, skurrilen Personen in charakteristischen Kostümen und Kulissen. Da sind einerseits die derbe Klofrau Rosa in kleingeblümter Kittelschürze, die nichts mehr liebt als Schlager, und die extravertierte Kioskbesitzerin Gertrud in Pink mit Löwenmähne, die für ihren Kaffee, frische Brötchen und den gemütlichen Schwatz mit Kollegen und Gästen lebt. Es sind Alltagsmenschen mit Ecken und Kanten, die selbstverständlich Kraftausdrücke benutzen und über zotige Witze herzlich lachen. Ihnen auch räumlich auf der anderen Bühnenseite gegenübergestellt ist der Blumenstand der sensiblen, verträumten, poetischen Blumenfrau Matilda, die selbstverständlich einen Kranz rosafarbener Rosen im Haar trägt. Ihr korrekter, etwas linkischer Kunde Leonhard, der ständig hochgestochen philosophierende Penner Wolfgang und die junge, militant-vegetarische McCurry Verkäuferin Amelia vervollständigen das Ensemble von Individualisten, die sich auf dem Bahnhof eingenistet haben wie in einem Biotop. Trotz aller Kabbeleien untereinander bilden sie eine Gemeinschaft, die durch die heftige Abneigung gegen die uniformierte Bahnhofsvorsteherin Henriette zusammengehalten wird, die ihrerseits nichts mehr liebt als Pünktlichkeit und Ordnung und die deshalb sowohl die Kunden als auch die sehr individuellen Serviceleistenden ausschließlich als Störfaktoren wahrnimmt. Mit Vernunft betrachtet, ist dieser Bahnhof tatsächlich ein heruntergewirtschaftetes, unrentables Projekt, ein durch Gewohnheitsrecht entstandenes Sammelsurium inkompatibler ästhetischer und weltanschaulicher Konzepte.
Dabei ist das Bühnenbild aber so liebevoll und detailreich gestaltet, dass man beim Öffnen des Vorhangs unwillkürlich empfindet: Wie schön! Mit diesem Blick in eine heimelige Modelleisenbahnwelt erfährt der Zuschauer unmittelbar die Kehrseite des Bürokratischen, Verschrobenen und Veralteten: Der Bahnhof ist zu einer Heimat geworden, zum „Kietz“, zum eigenen Revier derer, die dort ihr Leben verbringen.
Isabell und Tony erleben mit, wie diese Heimat von dem vehement auftretenden Sanierer Guido Glanz bedroht wird. Der übermittelt Räumungsbescheide und kündigt die Abrissbirne an. Nicht ganz unberechtigt urteilt er: „Keine Basis für ein Business, das auf Service baut / ein Wunder, dass sich noch ein Kunde in den Bahnhof traut.“ Seinem Wellnesskonzept in Pink, in dem der Kunde sich wieder als König fühlen soll, um nur umso gründlicher ausgenommen zu werden, scheint die Zukunft zu gehören. Und schnell schließt sich die Bahnhofsvorsteherin Henriette, die zwar keine innovativen Ideen hat, aber mit Disziplin und Organisationstalent für das Sanierungskonzept nützlich sein kann, dem neuen Projekt an und verbündet sich mit Guido Glanz gegen die anderen, die ihr Zuhause bedroht sehen. Die Fahrgäste Leonhard und Wolfgang drücken in einem empört-verzweifelten Duett aus, was alle fühlen: „Ein Bahnhof für die Ewigkeit / muss bleiben, wie er war.“ Damit hat sich der Konflikt unlösbar zugespitzt. Hilfe kann nur noch von außen kommen.
Zwischen den Alternativen, alles beim Alten zu belassen oder alles zu vernichten, tut sich als einziger Ausweg nur eine Möglichkeit auf: Isabell und Tony legen ihr Erbe zusammen und kaufen den Bahnhof. Es ist ein spontaner und unüberlegter Entschluss, motiviert aus Zorn auf den zerstörerischen Investor sowie Sympathie und Verantwortungsgefühl für die bedrohten Menschen. Vielleicht kosten sie auch das Gefühl der Macht aus, die ihnen das Geld verleiht, der Macht ein unausweichliches Schicksal aufzuhalten. Aber handeln sie aus Liebe?
Der Morgen danach
Nein, es scheint eher so, wie wenn sich jemand kopflos in eine Affäre stürzt und alles auf ein böses Erwachen hindeutet. Der zweite Akt zeigt dann auch, wie Tony und Isabell am Morgen danach zu realisieren versuchen, auf was sie sich da eingelassen haben.
Mit den Worten: „Nein, das ist echt.“ verabschiedet sich Tony von ihrem Theatertraum. Sie stellt erstaunt fest, dass sie sich bisher geirrt hat und dass sie sich ganz leicht von ihren alten Träumen trennt. Tony begreift, dass sie in Wahrheit nicht schauspielern, sondern für echte Menschen wirklich „eine Rolle spielen“, d.h. für ihr Leben bedeutsam sein will. Investorin eines Bahnhofs ist die Rolle ihres Lebens. Und damit kann ihr Leben dann auch enden. Schrill wie schon in „Leben“ hat Zago noch einen Gastauftritt als der Tod. Die früher versprochenen weiteren zehn Lebensjahre braucht Tony nicht mehr, Zago macht ihr bewusst, dass sie ihr Ziel eben schon früher erreicht und ihr Leben damit ausgeschöpft hat. Willig lässt Tony sich von ihm wegführen.
Isabell dagegen rebelliert gegen ihre eigene Entscheidung. Sie will das Geschäft so schnell wie möglich irgendwie rückgängig machen. Die Szene erinnert ein wenig an Erich Frieds Gedicht: „Was es ist“: Vernunft, Berechnung, Angst, Einsicht, Stolz, Vorsicht und Erfahrung in ihr bewerten ihr Handeln als Unsinn, Unglück, Schmerz, aussichtslos, lächerlich, leichtsinnig und unmöglich. Erst im Gespräch mit dem intellektuellen Penner Wolfgang, der genau weiß, wie es ist, nirgendwo hinzugehören, und der gerade deshalb den Bahnhof als Lebensort braucht, ringt sie sich dazu durch, sich zu beheimaten und Verantwortung für die Menschen als ihre Familie zu übernehmen. Sie entschließt sich, Liebe zuzulassen, in dem klaren Bewusstsein, dass man für Bindung eben Freiheit aufgeben muss. Aber sie glaubt auch, dass es das ist, was sie eigentlich gesucht hat und vor dem sie bisher immer ängstlich geflüchtet ist. Die Uniformmütze der Bahnhofsvorsteherin wird zum Symbol für diesen inneren Prozess. Sehr zögerlich nimmt sie sie in die Hand und erst viel später setzt sie sie auf. Aber damit hat auch sie ihre Rolle im Leben gefunden. Für den Bahnhof gibt es ein neues, menschliches Konzept, in dem Service an erster Stelle steht, was aber kein Gegensatz zur Wirtschaftlichkeit sein soll. Genau wie in Frieds Gedicht behält die Liebe das letzte Wort: „Es ist was es ist sagt die Liebe.“ Nämlich ein abgewrackter Bahnhof, der zur Lebensaufgabe und Heimat wird.
Text: Monika Hellebrandt
Fotos: Thomke Janowitz, Thomas Cöhnen