Wenn Bewegungen zur Herausforderung werden

Eine Selbsterfahrungsübung mit dem „Alterssimulationsanzug“

Wie fühlt sich das Laufen durch ein Treppenhaus an, wenn man kaum noch was sehen kann? Was bedeutet es für die Wahrnehmung, wenn das Hören massiv beeinträchtigt ist? Wie funktioniert das Treppensteigen mit extrem schweren Gliedern und kaum beweglichen Gelenken?

Am Donnerstag dem 07.01.2016, haben wir (HEP/U) im Rahmen des Faches Gesundheit/Pflege am eigenen Leibe erlebt, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Beweglichkeit und Wahrnehmung massiv eingeschränkt ist und alles das, was vorher hinsichtlich Koordination und Motorik selbstverständlich war, zu einer großen Herausforderung wird.

Aus den Unterrichtsstunden zuvor kannten wir die Anatomie und Physiologie des Bewegungsapparates und des Seh- und Hörsinns und wussten somit, wie es beim „Gesunden“ abläuft. Mit dem Alterssimulationsanzug aber war nun alles anders. Dieser katapultierte uns von jetzt auf gleich in ein hohes Lebensalter, in dem man – was natürlich nicht verallgemeinerbar ist – oftmals mit Einschränkungen verschiedenster Art konfrontiert wird. Wie wir aus unserem Orientierungspraktikum in Einrichtungen der Behindertenhilfe schon wussten, muss man gar nicht erst alt sein, um derartige Einschränkungen zu haben. Wie es sich aber anfühlt, mit den Einschränkungen zu leben und sich damit zum Beispiel in einem Treppenhaus fortzubewegen, das konnten wir uns bis jetzt nicht so richtig vorstellen. Da kam der Einsatz des Anzuges also gerade recht, um unser Empathievermögen zu steigern.

Schon das Anziehen des Alterssimulationsanzuges war nicht ganz einfach, gab es doch viele einzelne – und zum Teil sehr gewichtige – Bestandteile, die erst einmal aus dem Koffer ausgepackt und dann an Ort und Stelle an der Frau bzw. am Mann zu befestigen waren. Mit den Gewichten wurden zum Beispiel die Fuß- und Handgelenke beschwert und ein Kraftverlust herbeigeführt. Dazu gab es Manschetten, die an der Ellenbeuge und im Kniegelenk angebracht wurden und dort eine Gelenkversteifung simulieren sollten. Ebenso begrenzte eine Halskrause die Kopfbeweglichkeit. Wir hatten außerdem die Möglichkeit, mit Hilfe von gleich sieben Simulationsbrillen verschiedene Sehbeeinträchtigungen nachzuempfinden, so zum Beispiel die Augenkrankheiten Grauer Star und Grüner Star, die halbseitige Netzhautablösung, die Makuladegeneration und die diabetische Retinopathie. Dazu gab es große Kopfhörer auf die Ohren, die einen die Umgebung plötzlich nur noch sehr gedämpft wahrnehmen ließen.
Außerdem gab es Handschuhe, die durch Stromimpulse einen Tremor (unkontrolliertes Zittern der Muskeln in den Händen) auslösten, wie er typischerweise bei Parkinsonkranken auftritt. Da geriet das Öffnen einer Wasserflasche, das Schreiben mit einem Kugelschreiber und auch das Öffnen von Knöpfen oder Türen zu einer schier unlösbaren Aufgabe. So ausgerüstet ging es dann – natürlich immer nur in Begleitung – auf einen Rundgang durch das Schulgebäude.

Wie das anschließende Reflexionsgespräch zeigte, waren unsere dabei gesammelten Erfahrungen sehr individuell und interessant. Eines aber war bei allen gleich: Der Anzug löste das Gefühl von Unsicherheit, Schwäche, Abhängigkeit und oftmals auch von Angst aus. Diejenigen, die im Anzug steckten, waren durchgängig auf eine Begleiterin/einen Begleiter angewiesen, wenn sie auch nur halbwegs das Gefühl von Sicherheit haben wollten. Besonders beim Treppensteigen, Hinsetzen und Aufstehen gab es Orientierungs- und Gleichgewichtsprobleme, die beim manchem mit dem Angst vor einem Sturz einhergingen. Die Bewegungen wurden durch die Gewichte im Anzug als schwer und unangenehm empfunden. Durch die zusätzliche Hör- und Sehbeeinträchtigung fiel die Orientierung schwer, was zu großer Unsicherheit beim Laufen führte.
Interessant war vor allem auch, dass diejenigen, bei denen das Hören eingeschränkt war, besonders aufmerksam das Sehen einsetzten – sofern das nicht auch beeinträchtigt war – und dass die, die kaum was sehen konnten, sich besonders auf das Hören konzentrierten.

Aus den Beschreibungen der Mitschüler ging auch hervor, dass sich die Hände beim Einsatz der Tremor-Simulationshandschuhe wie taub anfühlten. Sowohl das unkontrollierte Zittern als auch die Verkrampfung des Armes verursachten einen unangenehmen Schmerz bei sämtlichen Bewegungen und führten zur Frustration, wenn sich zum Beispiel die Wasserflasche nicht öffnen ließ, die Kaffeetasse nicht ohne Überschwemmungen zum Mund geführt oder nicht mal eben kurz was vom Boden aufgehoben werden konnte.

Bei der Ableitung von Konsequenzen für das pflegerische Handeln waren sich alle darin einig, dass man Empathie und Verständnis für die Betroffenen braucht, aber vor allem auch konkrete pflegerische Maßnahmen kennen und ergreifen muss, die allgemein die Lebensqualität der Menschen mit Beeinträchtigungen erhöhen und die vor allem für Sicherheit sorgen – ganz besonders im Hinblick auf die Vermeidung von Stürzen. Am Ende der Selbsterfahrungsübung stand somit auch das nächste Unterrichtsthema fest, nämlich die Sturzprophylaxe und das Kennenlernen und Anwenden des Expertenstandards Sturzprophylaxe.

Nach dem Ablegen des Anzuges und der Brillen war allen die Erleichterung anzusehen. Manche sind bei der Übung mächtig ins Schwitzen geraten, was uns einmal mehr zeigte, wie anstrengend es oftmals sein muss, mit körperlichen Einschränkungen zu leben.
Insgesamt war dies eine spannende und lehrreiche Erfahrung, die unseren Horizont zum Leben mit körperlichen Beeinträchtigungen auf jeden Fall erweitert hat.

Text: Anne Ehlert & Sophie Post (HEP/U)
Fotos: Andreas Mäteling


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