Wie Gebete und Demonstration ein Unrechtsregime zum Einstürzen brachten

Auch im Jahre 2010 organisierte die Volkshochschule Gelderland den Vortrag eines Zeitzeugen und lud dazu am 9. November den emeritierten Pfarrer der Nikolaikirche Leipzig, Christian Führer, in die Aula im Lise-Meitner-Gymnasium in Geldern ein, wo Schüler und Schülerinnen des Berufskollegs der Liebfrauenschule und der Gymnasien Friedrich-Spee und Lise-Meitner seinen Erzählungen lauschen durften.

Herr Führer präsentierte den Vortrag: „Friedliche Revolution und Einheit Deutschlands – Anstiftung zum Weiterdenken“, in dem er von den Friedensgebeten in der Nikolaikirche in Leipzig berichtete und im Besonderen die daraus folgenden friedlichen Demonstrationen zu DDR-Zeiten aus eigener Perspektive schilderte. Doch es ging nicht alleine um das einfache Wiedererzählen seiner Eindrücke und Erfahrungen, er versuchte uns Zuhörern auch die Umstände vor Augen zu führen und die Stimmung der Menschen zur damaligen Zeit zu vermitteln.

„Von entscheidender Bedeutung für den einzelnen Menschen wie für ein ganzes Volk ist das Gedächtnis. Nichts macht den Menschen und seine Persönlichkeit mehr zunichte, als wenn er das Gedächtnis verliert. Nichts macht ein Volk substanzloser und manipulierbarer, als wenn es das Gedächtnis vernachlässigt, missachtet, verdrängt und schließlich verliert. Da wird die Gegenwart zum Zufall und die Zukunft zum Ernstfall. Darum richten wir von Jahr zu Jahr intensiver unser Gedächtnis auf die friedliche Revolution mit dem Kerndatum 9. Oktober 1989, dem Tag der Entscheidung in Leipzig, der vier Wochen später zur Überwindung der Berliner Mauer am 9. November und ein Jahr später zur Vereinigung der beiden Teile Deutschlands führte.“

Mit diesen Worten begann Pfarrer Führer seinen spannenden Vortrag und zeigte zugleich, wie wichtig ihm sein eigener Glaube ist, der dazu beigetragen hatte, dass junge „Punks“ zu den Friedensgebeten in seine Kirche kamen, weil es dort einer der weniger Orte war, wo es nicht verboten war, die eigene Meinung kund zu tun.

Schon in der Schulzeit begann die Beeinflussung der Kinder durch Regierung und Partei, und Gehorsam stand mit an oberster Stelle, so dass kaum Platz für Selbstentfaltung blieb. In der Kirche aber wurde jungen kritischen Menschen dieser Freiraum geschenkt, und so wurden die Friedensgebete immer populärer. „Wir haben nicht das gemacht, was die ‚Anderen’ wollten“, so Pfarrer Führer. Die ‚Anderen’, damit waren Regierung, Partei und Sicherheitskräfte gemeint.

„Diktatur macht erfinderisch“, sagte er ebenfalls. Und so erzählte er mit einem Schmunzeln, wie er eine Gruppe junger Musiker in seiner Kirche spielen ließ, die sich selbst den Gruppennamen „Wutanfall“ gegeben hatte. Mit ihren Texten drückten sie aus, was viele sich nicht trauten auszusprechen. Je mehr die Friedensgebete an Beliebtheit und Berühmtheit erlangten, desto mehr wurde auch das Regime darauf aufmerksam. Aber selbst Polizeiaufgebote und Verhaftungen (meist ohne Haftbefehl) konnten den Andrang der Menschen, jeden Montag an den Friedensgebeten teilzunehmen, nicht stoppen.

Und der 9. Oktober 1989 kam, an welchem die Leute nach den Gebeten aus der Kirche strömten und von fast 70.000 Menschen empfangen wurden. Einige trugen Kerzen mit sich und sie setzten sich alle als einzige große Masse in Bewegung, zogen sogar die Genossen der SED mit sich und demonstrierten ohne jegliche Gewalt in den Straßen. Eine ähnliche friedliche Revolution hatte es bis dato noch nie gegeben. „Nach diesem Abend war die DDR nicht mehr dieselbe!“, erzählte Herr Führer. Und es sollte nur noch eine Frage der Zeit bleiben, bis sich die Regierung dem Volk beugte. Einen Monat später dann fiel die Mauer und es verging nur ein Jahr, und Deutschland wurde geeint.
Seit diesen Ereignissen ist die Nikolaikirche in Leipzig zu einer „Demonstrations-Organisation“ herangewachsen und veranstaltet immer noch Demonstrationen, so z.B. gegen die Neonazis und verhindert deren Märsche. Die Friedensgebete in Leipzig sind heute noch nicht ausgestorben, im Gegenteil, auch in anderen Gemeinden sind sie populär geworden.

Alles in allem lässt sich sagen, dass Christian Führer einen nicht nur aufschlussreichen und interessanten Vortrag geliefert, sondern auch seine jungen Zuhörer zum Weiterdenken ermutigt hat, indem er mit voller Überzeugung sprach und authentisch schilderte und erzählte.
Auch in einem Gespräch im kleinen Kreis, das wir beiden vom Berufskolleg der Liebfrauenschule und zwei Redakteure von der Schülerzeitung des Lise-Meitner-Gymnasiums im Anschluss an den Vortrag mit Pfarrer Führer hatten, lauschten wir noch vielen zusätzlichen und detailreichen Erzählungen. Die Fragen die dabei noch aufkamen, beantwortete er sehr umfassend.

Das Gespräch zeigte viele Facetten des damaligen Lebens und gab noch einmal ausführlich einen Blick darauf, so auch auf Herrn Führers eigene Situation als Pfarrer in der DDR und die daraus resultierenden Probleme und Schwierigkeiten. Er erzählte uns, dass er selbst als Junge schon mit Unannehmlichkeiten in der Schule zu kämpfen hatte, da sein Vater ebenfalls Pfarrer war, und er daher von dem einen oder anderen Lehrer ein wenig in die Mangel genommen wurde.

Besonders beeindruckt waren wir von den damaligen Umständen, mit denen Herr Führer groß geworden war, wie er die daraus resultierenden Probleme bewältigt hatte und natürlich von den Montagsgebeten und der Stärke und dem Durchhaltevermögen, welche er dafür aufbringen musste, dass diese bestehen blieben.

Wir würden uns freuen, wenn die VHS Gelderland weiterhin so interessante Zeitzeugen einladen könnte, die uns spannende Geschichtsstunden bescheren.

Text: Dannika Stratmann und Nina Kratz (AH/12S)
Fotos: Karl-Heinz Pasing


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