„Ich wollte die Welt verändern“- Willi Fährmann zu Gast

„Als junger Lehrer wollte ich die Welt verändern, heute bin ich froh, wenn ich einige zum Nachdenken bringe.“
Willi Fährmann las in der Liebfrauenschule!

Zur Person:
Willi Fährmann, der am 18.12.1929 in Duisburg-Beeck geboren wurde, zog 1963 nach Xanten und war dort als Lehrer tätig, nachdem er sein Abitur an einer Abendschule nachgeholt hatte und dann ein Studium an der pädagogischen Hochschule absolvierte. Er ist Träger fast aller Auszeichnungen, die im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zu vergeben sind.

Wir, die FSP/0 1, haben uns im Fach Jugendliteratur mit Kinderbuchautoren auseinandergesetzt. Darunter war auch der am Niederrhein sehr bekannte Autor Willi Fährmann.

Was liegt da näher, als ihn in die Liebfrauenschule einzuladen?!

Gesagt, getan! Am 23.03.2001 war es dann soweit.

Willi Fährmann Live!!!

Kristina Stunden am Krankenbett. Ich zähle die Tropfen in die Vene. Tropfen Hoffnung. Tropfen Erinnerung. Bilder. Deine Hand auf meiner rotfleckigen Stirn. Damals. Ich hatte Scharlach. Kurz nachdem Mutter die Wohnung bekam. Ich merkte, Mutter war erleichtert. Scharlach war ein vortrefflicher Vorwand, mich bei dir, Großmutter zurückzulassen. Deine Hand auf meiner heißen, trockenen Stirn.

Tropfen Erbarmen. Tropfen Erinnerung.

Deine magere Hand schob sorgsam die winzigen Krümel Brot auf der Tischplatte zusammen. Gottes gute Gaben. Die Hand, die das letzte halbe Brot in zwei Stücke brach und der Zigeunerin gab, bevor sie noch darum bettelte.

Tropfen Gerechtigkeit. Tropfen Erinnerung.

Deine harte Hand. Du zerrtest mich zum Geschäftsführer des kleinen Ladens. Ich hatte ein Stückchen Band genommen, blaues Band für meine Puppe. Die zarte Hand, die mir noch in eben dieser Stunde ein langes blaues Band in den Schoß legte. Wie dick die Adern auf den Handrücken liegen. Knotig. Blau.

Ich zähle die Tropfen. Tropfen Leben. Tropfen Erinnerung.

Deine Geschichten, Großmutter, deine Geschichten. Deine Augen wurden rund. Sie sahen, was du erzähltest. Krieg. Tod. Gott. Ich sah es durch deine Geschichten.

Ich zähle die Tropfen. Tropfen Trost. Tropfen Erinnerung.

Ich kam mit Bonbons. Ein Kind noch. Ein junger Mann hatte sie mir geschenkt. Du glaubtest mir nicht. Ich konnte deinen Zweifel nicht ertragen. Unter der Bank habe ich die Zlotys gefunden, erfand ich. Du warst zufrieden. Bis die Aleksanrowicz dir sagte, ich zöge mit fünf Jahren schon den Männern das Geld aus der Tasche. Du hast mich um Verzeihung gebeten. Tränen in der Stimme. Ich mußte dich trösten.

Ich zähle die Tropfen. Tropfen Schmerz. Tropfen Erinnerung.

Die ersten und die letzten Lügen, Großmutter. Von dir die Wahrheit. Als Antwort die Wahrheit. Ich lachte, als du bei der Miliz an jenem Mittwoch die Schieblehre als polnisches Erzeugnis hinstelltest. Ich lachte, als ich dich am Freitag derselben Woche zur Kirche gehen sah. „Was wirst du sagen in der Beichte?“ neckte ich dich. „Ich habe gesündigt wider die Wahrheit des Herrn“ hast du geantwortet, Zornfalten hoch in der Stirn.

Ich zähle die Tropfen. Tropfen Zuversicht. Tropfen Erinnerung.

Unser Atlas zeigte eine fettige Bahn quer durch Europa. Die Bahn meiner Finger. Die Bahn von Janecs Finger. Deine Hand hat unsere Finger geführt. Tausendmal. Vor der Tuchler-Heide unweit der Weichsel in das Gewirr der Städte am Rhein. Dreißig Jahre hast du gewartet, gehofft, gestritten,

geschrieben, gezittert. Für eine Spanne von Kinderhand. Wo Menschen die Menschen fesseln wollen, will ich nicht leben. Tropfen in die Vene auf dem Wege ins Herz.

Tropfen Erinnerung. Tropfen Hoffnung. Tropfen Tod?

(aus: Kristina vergiss‘ nicht)

In Willi Fährmanns Büchern stehen immer Menschen im Mittelpunkt. Menschen in Extremsituationen, Minderheiten, Menschen auf der Flucht, jene die Verfolgung erleiden und Menschen in der Auswanderung. Freundschaften und Liebe, Niederlagen und Enttäuschungen und immer wieder Hoffnung durchziehen seine Bücher, die sich auf die Leser überträgt. Er führt die Zeitgeschichte in das aktuelle Jugendbuch ein, so sind seine Bücher auch Zeitzeugnisse:

Geschichte lebt!!!

Seine Bücher zeichnen sich durch die Recherchen an Tatorten, das starke Quellenstudium und zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen aus. Der Vortrag war sehr lebendig gestaltet. Zwischen Zitaten aus „Unter der Asche die Glut“ reihten sich unzählige Geschichten und Anekdötchen. Für alle war es eine Freude dem unermüdlichen Erzähleratem von Willi Fährmann zu lauschen.

Text: FSP/0 1
Foto: W. Fährmann zu Gast bei der FSP/O im Jahre 2003


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