Mit der S-Bahn in die Freiheit

„Kindheit und Jugend sind die prägendsten Phasen im Leben eines Menschen“. So begann Michael Schwerk seinen durch eine eine PowerPoint-Präsentation unterstützen Vortrag vor den AH 12er Schülerinnen und Schülern im Konferenzraum. Er stellt sich regelmäßig als Zeitzeuge des Koordinierenden Zeitzeugenbüros zur Verfügung und berichtet immer wieder in Schulen und bei anderen Gelegenheiten von seinem Leben in der DDR bis zu dem Tag, als er die Entscheidung traf, sein Leben aufs Spiel zu setzen und „rüberzumachen“. Das war im 1966, als er 22 Jahre alt war.

Michael Schwerk, Jahrgang 1943, schlug einen Bogen von der Vertreibung seiner Familie mit ihm als Kleinkind aus Schlesien bis in die sowjetische Besatzungszone, wo die Familie sich bei Pirna niederließ und er dort seine Kindheit und Jugend verbrachte. Immer wieder betonte er die Enge und die von Zwängen und Überwachung geprägte Zeit im Unrechtsstaat DDR und brachte interessante Aspekte wie die Rolle der FDJ und der Stasi mit ein oder kam auf den 17. Juni 1953 zu sprechen. Auch ging er auch auf die in der DDR verbreiteten politischen Witze ein, die schwere Konsequenzen wie Haft nach sich ziehen konnten.

Nachdem schon seit den 50er Jahren bis zum Mauerbau 1961 Millionen DDR Bürger abgehauen seien, wollte er nicht „DDR“ sein, „Der Dämliche Rest“, der in diesem Staat blieb. In seinem „jugendlichen Leichtsinn“ hatte er allerdings die Lage nicht ganz realistisch eingeschätzt und z.B. einen 4,60 m tiefen Schacht nicht auf der Rechnung, aus dem er sich erst befreien musste. Sieben Menschen starben an derselben Stelle beim Fluchtversuch mit der S-Bahn an der Bornholmer Straße, die übrigens 1989 beim Mauerfall wieder im Fokus der Öffentlichkeit stand. Er nahm die S-Bahn, die sehr nah am Grenzgebiet vorbei wieder Richtung Prenzlauer Berg verlief, zog die Notbremse an der vorher exakt ausgetüftelten Stelle, sprang aus dem Zug und rannte gen Westen, zwischen den mit Bluthunden patroullierenden Grenzschützern über einen Signalzaun, einen Maschendrahtzaun, durch den tiefen S-Bahn-Schacht, überwand einen weiteren Stacheldrahtzaun, hörte wie der Alarm ausgelöst wurde, was Schießbefehl bedeutete und landete leicht verletzt und erschöpft, aber glücklich in einer Gartenkolonie in West-Berlin.

„Was er denn als erstes getan habe, als er „drüben“ war“, wollte eine Schülerin wissen. Er habe nicht viel machen können, da er den ganzen Tag von amerikanischen GIs verhört worden sei. Das habe ihm so viel Spaß gemacht, mit den Amis zu reden. Er hätte, übertrieben gesagt, alle GIs am liebsten abgeknutscht. Auf die Frage, wie er denn im Westen aufgenommen worden sei, antwortete Schwerk, dass alles sehr gut gelaufen und glatt gegangen sei. Er habe etwas Geld bekommen, sich bei den Westberliner Behörden gemeldet und dann Arbeit gesucht, um dann nach einigen Monaten die Aufnahmeprüfung an der Sporthochschule Köln zu machen. Danach habe er ein Studium für das Lehramt am Gymnasium in Köln für Sport und Geographie begonnen. Auf die Frage, ob seine Familie denn unter seiner Entscheidung leiden musste, antwortete er, dass sie zunächst schon Repressalien erfuhren, aber man konnte ihnen keine Mitwisserschaft nachweisen. Allerdings hätten seine Brüder schon Benachteiligungen erleben müssen. 1972, nach dem Abschluss des so genannten „Verkehrsabkommens“ und der in diesem Rahmen erfolgten Amnestie, war es ihm aber wieder möglich, legal in die DDR einzureisen und seine Familie zu besuchen.

Eine andere Frage eines Schülers richtete sich auf die Behandlung der DDR nach dem Mauerfall, ob das in Ordnung gewesen sei oder es vielleicht doch eine Alternative gegeben hätte. Schwerk verneinte dies. Seiner Meinung nach hatte die Treuhand keine andere Möglichkeit als die DDR abzuwickeln, auch wenn diese Tatsache für den „Normalbürger“ in der DDR eine schwer erträgliche und schmerzhafte Situation war, wenn es um Arbeitsplatzverlust u.ä. ging. Dies habe er immer nachvollziehen können.

Bevor er seine Flucht anhand von eigenen Skizzen detailliert vorstellte, schilderte er seine Vorliebe für den Turnsport seit frühester Jugend, seine Ausbildung zum Betonfacharbeiter, um „dem Staat das zurückzugeben, was der ihm schon ermöglicht hatte“ (Zitat DDR), seinen Dienst bei der Bereitschaftspolizei, die aber eigentlich eine getarnte NVA-Abteilung war, bis hin zur Aufnahmeprüfung an der Leipziger Hochschule für Körperkultur.

Eine sehr interessante Anekdote am Schluss war die Erwähnung eines Briefwechsels mit Günter Schabowski. Er hatte Schabowski vor einigen Jahren einen Brief geschrieben und seine Flucht aus der DDR darin erläutert. Schabowski schrieb ihm eine mehrseitigen Brief zurück, in dem er Schwerks Flucht eine richtige und lobenswerte Entscheidung nannte, seine eigenen Fehler zugestand und Schwerk um Entschuldigung bat für damalige Fehleinschätzungen und Handlungen. Dies rechnet Schwerk ihm bis heute hoch an. Schabowski sei einer der ganz wenigen Funktionäre der DDR gewesen, die zur Aufarbeitung des Regimes beigetragen und sich zu ihren eigenen Mitverantwortung bekannt haben.

Schwerk schloss seinen lebendigen Vortrag mit den Worten, dass er seine Entscheidung, „rüberzumachen“ nie bereut habe. Auch die Schülerinnen und Schüler empfanden den Vortrag als sehr spannend und aufschlussreich. Tim fand es als Bereicherung, eine solche Biographie mal nicht aus Büchern wie üblich, sondern durch die betreffende Person geschildert zu bekommen. Eva schloss sich dieser Meinung an und ergänzte, dass man als Schüler zwar schon mal einiges über die Grenzanlagen gehört habe, aber nicht in dieser Detailgenauigkeit und in ihrer Brutalität. Das sei schon sehr beeindruckend gewesen, besonders vor dem Hintergrund, dass Michael Schwerk im Alter von 22 eine solche Entscheidung getroffen und ein solches Risiko eingegangen sei – mit einem sehr guten Ausgang für ihn.

Text: J.Terhorst
Fotos: G.Rinkens


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